In der öffentlichen Wahrnehmung gilt die NATO als westliches Verteidigungsbündnis, das für demokratische Werte und Menschenrechte einsteht. Betrachtet man jedoch die Geschichte der Organisation und ihre tatsächlichen Aktivitäten, stellt sich die Frage, ob diese Darstellung der Realität entspricht. Eine ehrliche Analyse zeigt ein Bündnis, das primär geostrategische Interessen der USA verfolgt und wiederholt als Angriffsinstrument eingesetzt wurde.

Gründung und amerikanische Vormachtstellung

Die offizielle Gründungsgeschichte der NATO wird oft vereinfacht dargestellt. Eine aufschlussreichere Einschätzung ihrer ursprünglichen Funktion lieferte der erste NATO-Generalsekretär Hastings Lionel Ismay: Die Aufgabe der NATO sei es, „die Amerikaner drinnen, die Russen draussen und die Deutschen unten zu halten“.

Diese amerikanische Dominanz prägt die NATO-Strukturen bis heute:

  • Der wahre Befehlshaber: Während der Generalsekretär traditionell ein Europäer ist und das Bündnis nach aussen repräsentiert, liegt die eigentliche Macht beim amerikanischen Präsidenten.
  • Der SACEUR: Der Oberbefehlshaber der NATO in Europa (SACEUR) war seit 1951 ausnahmslos immer ein amerikanischer General – angefangen bei Dwight D. Eisenhower, der später US-Präsident wurde.

Die verdeckte Seite: NATO-Geheimarmeen

Neben der offiziellen Militärstruktur unterhielt die NATO jahrzehntelang geheime „Stay-Behind-Armeen“ in ganz Europa. Deren Existenz wurde 1990 durch die Aufdeckung der „Operation Gladio“ in Italien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Der Schweizer Historiker Daniele Ganser dokumentierte, wie der italienische Premierminister Giulio Andreotti die Existenz dieser von CIA und MI6 aufgebauten Geheimarmee bestätigte.

Offiziell sollten diese Einheiten im Falle einer sowjetischen Invasion als Guerillatruppe agieren. Tatsächlich wurden sie jedoch auch innenpolitisch eingesetzt:

  • Terror zur Machtsicherung: In Italien, wo die kommunistische Partei stark war und ein NATO-Austritt befürchtet wurde, verübte die Gladio-Truppe Terroranschläge, die anschliessend fälschlicherweise linken Gruppen angelastet wurden.
  • Disziplinierung von Mitgliedern: Die Geheimarmeen dienten als Druckmittel, um NATO-kritische Länder auf Linie zu halten.

Das selbst proklamierte Wertebündnis

Die NATO bezeichnet sich in ihrem strategischen Konzept als Gemeinschaft, die auf „individueller Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ basiert. Die Praxis zeigt jedoch ein anderes Bild.

Anstatt Menschenrechte konsequent zu schützen, fungiert die NATO oft als Schutzschirm für Menschenrechtsverletzungen ihrer Mitgliedstaaten. Kriegsverbrechen bleiben meist straflos – ein Beispiel ist der Fall des Bundeswehrobersts Georg Klein, der 2009 die Bombardierung in Kundus, Afghanistan, befahl, bei der über hundert Zivilisten starben. Klein wurde nie zur Verantwortung gezogen, sondern später zum Brigadegeneral befördert.

Gleichzeitig werden Journalisten wie Julian Assange, die Kriegsverbrechen von NATO-Mitgliedern aufdecken, verfolgt. Die Menschenrechtslage in Mitglieds- oder Partnerländern spielt oft eine untergeordnete Rolle. Als in der Türkei nach dem Militärputsch 1980 Hunderttausende verhaftet und gefoltert wurden, stellte niemand die NATO-Mitgliedschaft infrage.

Besonders bezeichnend für diese Haltung ist die Entscheidung, den NATO-Gipfel 2025 in der Türkei abzuhalten – zum ersten Mal in einem zunehmend autoritär regierten Mitgliedsland. Während jahrelang Widerstand gegen diese Entscheidung bestand, verstummte die Kritik plötzlich. Präsident Erdogan hat systematisch Oppositionelle abserviert und das Land auf den demokratischen Tiefststand seit Ende der Militärdiktatur geführt. Doch aus NATO-Sicht zählen andere Faktoren: Die Türkei liefert Drohnen an die Ukraine, kontrolliert den Bosporus und verfügt über grosse Streitkräfte. Realpolitik kommt vor Moralpolitik – das erklärt nicht nur diese Gipfelentscheidung, sondern die gesamte NATO-Logik.


Quelle: SRF, Echo der Zeit vom 12.07.2025 – Auf Demokratie kommt es nicht mehr an

Die Türkei steht als undemokratischer „Sündenfall“ im Bündnis nicht mehr alleine da. Auch Ungarn und die Slowakei bewegen sich Richtung autoritäre Herrschaft. Diese Entwicklung wirft die Frage auf, wie sich das mit der Glaubwürdigkeit der NATO als „Allianz demokratischer Staaten“ vertragen soll. Offenkundig kommt es darauf nicht mehr an.

Die Interventionen: Eine Bilanz

Interessant ist, dass keine der kriegerischen Auseinandersetzungen, an denen die NATO beteiligt war, ein Verteidigungsfall im Sinne des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags war. Ein gemeinsames Muster zeigt sich durch nahezu alle Interventionen: Ein fundamentales Unverständnis für die komplexen Realitäten der Länder, in denen operiert wurde.

Jugoslawien (1999)

Der erste NATO-Krieg war der Angriff auf Serbien. Er war weder ein Verteidigungsfall noch von den Vereinten Nationen autorisiert. Selbst der damals beteiligte deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder gab später zu, dass die Bombardierung eines souveränen Staates ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss ein klarer Bruch des Völkerrechts war.

Afghanistan (2001-2021)

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 riefen die USA erstmals in der NATO-Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 aus. Da der Angriff jedoch nicht von einem Staat, sondern von einer Terrororganisation ausging, bewerten viele Kritiker diese Ausrufung als konstruierten Anlass für eine umfassende geopolitische Operation.

Die Intervention endete im August 2021 mit einem chaotischen Abzug. Die afghanische Armee und Regierung kollabierten innerhalb weniger Tage, die Taliban übernahmen wieder die Macht. Heute befindet sich Afghanistan in einer katastrophalen humanitären Krise. Die Ziele der Intervention – Demokratie, Stabilität und die Beseitigung des Terrorismus – wurden vollständig verfehlt.

Irak (2003-2011)

Obwohl kein offizieller NATO-Krieg, wurde die völkerrechtswidrige Invasion von einer „Koalition der Willigen“ unter US-Führung durchgeführt, die fast ausschliesslich aus NATO-Mitgliedern bestand. Die offiziellen Kriegsgründe stellten sich als nachweislich falsch heraus.

Das entstandene Machtvakuum war der direkte Nährboden für den Aufstieg der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Heute leidet der Irak weiterhin unter chronischer Instabilität, grassierender Korruption und tiefen sektiererischen Spannungen.

Libyen (2011)

Unter dem Vorwand der UN-Resolution 1973 startete die NATO Luftangriffe in Libyen. Dieses Mandat wurde jedoch schnell überdehnt und für einen aktiven Regimewechsel instrumentalisiert. Nach Gaddafis Tod beendete die NATO ihre Operation abrupt, ohne einen Plan für die Stabilisierung zu haben.

Die Intervention stürzte Libyen in einen vollständigen Staatszerfall. Das Land wurde zum Zentrum für Waffenschmuggel, Terrorismus und Menschenhandel. Bis heute ist Libyen ein gescheiterter Staat ohne stabile Zentralregierung.

Die NATO-Osterweiterung: Gebrochene Versprechen?

Ein weiterer kritischer Aspekt ist die NATO-Osterweiterung seit 1990. Während westliche Politiker heute bestreiten, dass der Sowjetunion Zusicherungen über eine Nicht-Erweiterung gegeben wurden, zeigen historische Dokumente ein anderes Bild. Der damalige US-Aussenminister James Baker versicherte seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse, die NATO werde sich „keinen Zoll weiter nach Osten“ bewegen.

Dennoch erweiterte sich die NATO in fünf Wellen: 1999 um Polen, Tschechien und Ungarn, 2004 um sieben weitere osteuropäische Länder, 2009 um Albanien und Kroatien, 2017 um Montenegro und 2020 um Nordmazedonien. Diese Expansion wird von Kritikern als Provokation Russlands interpretiert, die zur heutigen Konfrontation beigetragen hat.

Wirtschaftliche Dimension: Der Rüstungskomplex

Die NATO ist nicht nur ein Militärbündnis, sondern auch ein lukrativer Markt für die Rüstungsindustrie. Die Verpflichtung der Mitgliedsländer, mindestens zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, garantiert einen Mindestmarkt von über 400 Milliarden Dollar jährlich. Interessant ist, dass oft amerikanische Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin oder Raytheon von europäischen Rüstungskäufen profitieren.

Die geplante Erhöhung auf fünf Prozent bis 2035 würde diesen Markt mehr als verdoppeln. Allein für Deutschland bedeutete dies Ausgaben von über 200 Milliarden Euro jährlich – eine Summe, die andere gesellschaftliche Investitionen konkurrenziert.

Mediale Darstellung und selektive Wahrnehmung

In der westlichen Berichterstattung wird oft das Bild Wladimir Putins als unberechenbarer Aggressor gezeichnet, wobei jede seiner Handlungen in den Kontext seiner politischen Vergangenheit gestellt wird. Diese analytische Tiefe fehlt jedoch auffallend bei der Bewertung der NATO. Die völkerrechtswidrigen Kriege und gebrochenen Versprechen des Bündnisses scheinen in der tagesaktuellen Debatte kaum eine Rolle zu spielen.

Diese selektive Amnesie ist ein wirkungsvolles Werkzeug der Meinungsbildung. Indem die Vergangenheit der einen Seite permanent hervorgehoben und die der anderen ausgeblendet wird, entsteht ein verzerrtes Bild von Angreifer und Verteidiger.

Perspektive des globalen Südens

Viele Länder des globalen Südens betrachten die NATO nicht als Verteidigungsbündnis, sondern als Werkzeug westlicher Machtpolitik. Sie verweisen darauf, dass militärische Interventionen oft Chaos und Destabilisierung hinterliessen, während die Verantwortlichen straflos blieben.

Die NATO-Erzählung vom „Schutz der Demokratie“ wird in vielen Regionen als neokoloniale Rhetorik wahrgenommen. Der ungleiche Umgang des Internationalen Strafgerichtshofs, der fast ausschliesslich afrikanische Staaten verfolgte, verstärkt den Eindruck westlicher Doppelmoral. Deshalb suchen viele Staaten heute bewusst nach Alternativen zu westlich dominierten Strukturen.

Mögliche Gegenargumente

Fairerweise müssen auch die Argumente der NATO-Befürworter erwähnt werden. Sie verweisen auf:

  • Die Rolle als Stabilitätsanker nach dem Zweiten Weltkrieg
  • Die erfolgreiche Abschreckung während des Kalten Krieges
  • Den Schutz kleinerer europäischer Staaten vor Grossmachtambitionen
  • Humanitäre Interventionen wie den Einsatz gegen Völkermord
  • Die demokratische Kontrolle durch gewählte Regierungen der Mitgliedsländer

Diese Argumente verdienen eine ernsthafte Betrachtung, auch wenn sie die kritischen Punkte nicht entkräften.

Alternative Sicherheitsarchitekturen

Die Frage nach Alternativen zur NATO ist berechtigt. Modelle wie die schweizerische bewaffnete Neutralität zeigen, dass Sicherheit auch ohne Militärbündnisse möglich ist. Eine europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands, wie sie einst mit der OSZE angestrebt wurde, könnte stabiler sein als die heutige Blockkonfrontation.

Länder wie Österreich, Irland oder Finnland (vor 2023) demonstrierten jahrzehntelang, dass Neutralität und Wohlstand vereinbar sind. Die Schweiz führt dies seit über 200 Jahren erfolgreich vor.

Fazit: Machtinstrument statt Verteidigungsbündnis

Die Analyse zeigt: Die NATO funktioniert weniger als Verteidigungsbündnis denn als Instrument zur Durchsetzung von Machtinteressen. Dabei geht es um die globale Hegemonie der USA und um erhebliche Profite für die Rüstungsindustrie.

Die Geschichte der NATO-Interventionen zeigt ein Muster gescheiterter Staatsbildung und langfristiger Destabilisierung. Anstatt Frieden zu sichern, war die NATO wiederholt Aggressor. Es ist an der Zeit, die Legenden zu hinterfragen und eine ehrliche Debatte darüber zu führen, ob dieses Bündnis nicht durch eine echte europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur ersetzt werden sollte.

Eine solche Debatte ist besonders für neutrale Länder wie die Schweiz relevant, die ihre Traditionen der Vermittlung und des konstruktiven Dialogs als Alternative zur militärischen Blockkonfrontation einbringen könnten.

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